Begehrliches Wollen - Fallstricke im Ausgleichungs- und Anrechnungssystem des Pflichtteilsrechts - eine Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Thorsten Purps zur 17. ErbR Tagung in Ettlingen am 08. November 2024

12.11.2024
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Tim Grau / Prozessfinanzierer & Geschäftsführer Falkenegg

gemäß §§ 2315, 2316, 2326, 2327, 2328, 2329 BGB

I. Grundlegende Betrachtungen

Die Rechtswissenschaft steht oftmals am Ende einer gesellschaftlichen Entwicklungskette. Wie Sozialwissenschaftler und Philosophen betonen, entwickelt sich zunächst die gesellschaftliche Praxis, woraufhin das Recht nachzieht und diese Entwicklungen kodifiziert.

Konkrete Beispiele hierfür sind:

  • Die Evolution der Menschenrechte
  • Die rechtliche Stellung der Frau in der Gesellschaft
  • Die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften
  • Die Modernisierung des Erbrechts (inkl. Gleichstellung nichtehelicher Kinder)

II. Internationale Perspektiven zum Pflichtteilsrecht

Weltweit lassen sich drei grundlegende Systeme unterscheiden:

  1. Systeme mit etabliertem Pflichtteilsrecht:• Deutschland und Österreich• Südeuropäische Länder wie Italien, Spanien*, Portugal*• Benelux-Staaten*(*= mit Einschränkungen beim Pflichtteilsverzicht)
  2. Systeme ohne Pflichtteilsrecht: z.B. Angloamerikanischer Rechtsraum (USA, UK) ; Skandinavische Länder ; Australien
  3. Systeme mit Noterbrecht: z.B. Frankreich ; Einzelne US-Bundesstaaten wie Louisiana (für vulnerable Gruppen)

III. Das deutsche Trennungsprinzip

Das fundamentale Prinzip des deutschen Erbrechts basiert auf der strikten Trennung von:

  • Persönlichem Vermögen des Erben
  • Nachlassvermögen

Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche werden als Nachlassverbindlichkeiten klassifiziert (BGH 80, 206). Die Haftung für diese Verbindlichkeiten kann durch rechtliche Maßnahmen auf den Nachlass beschränkt werden.

IV. Mechanismen der Haftungsbeschränkung

Das deutsche Erbrecht bietet verschiedene Instrumente zur Haftungsbeschränkung:

  1. Direkte Beschränkungen: a) Erschöpfungseinrede (§§ 1970, 1973 BGB) b) Dürftigkeitseinrede (§ 1990 BGB) c) Nachlassinsolvenz und Nachlassverwaltung (§ 1980 BGB)
  2. Verfahrensrechtliche Instrumente: a) Inventarerrichtung (§§ 1994, 2013 BGB) b) Einrede des nicht auseinandergesetzten Nachlasses (§ 2059 BGB) c) Besondere Schutzvorschriften für minderjährige Erben (§ 1629a BGB)

V. Praxisrelevante Fallkonstellation: Der beschenkte Pflichtteilsberechtigte

Die Bedeutung des Trennungsprinzips wird besonders deutlich bei unzureichendem Nachlass eines beschenkten, pflichtteilsberechtigten Erben. Ein Praxisbeispiel:

Sachverhalt: Ein Erblasser überträgt seiner zweiten Ehefrau ein Eigenheim (Wert: 200.000 €) unter Nießbrauchsvorbehalt. Der Restnachlass beträgt 2.000 €. Die Ehefrau wird als Alleinerbin eingesetzt. Der Sohn aus erster Ehe macht Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche von 50.500 € geltend.

VI. Juristische Analyse: § 2328 BGB analog im Rahmen des § 2329 BGB

Die Rechtsprechung (BGHZ 84, 274) hat wichtige Grundsätze entwickelt:

  • Analoge Anwendung des § 2328 BGB im Kontext des § 2329 BGB
  • Das Trennungsprinzip als Instrument der Vermögenssicherung
  • Besondere Bedeutung der Verjährungsregelung (§ 2332 BGB)
  • Privilegierung des pflichtteilsberechtigten Erben gegenüber beschenkten Dritten

VII. Problemfeld: § 2327 BGB und die Anrechnungsproblematik

Die rechtliche Behandlung des beschenkten Pflichtteilsergänzungsberechtigten im Rahmen des § 2327 BGB wirft Fragen auf. Besonders relevant: Die BGH-Rechtsprechung zur Abschmelzung (NJW 1997, 2676) findet keine Anwendung auf beschenkte Pflichtteilsergänzungsberechtigte.

Beispielfall:

  • Erblasser M verstirbt als Witwer
  • Alleinerbe A (Sohn) erhielt vor 5 Jahren eine Immobilie (Wert: 1.600.000 €)
  • Tochter S erhielt vor 12 Jahren eine Immobilie (Wert: 200.000 €)
  • Güterstand: Zugewinngemeinschaft
  • Nachlass: 400.000 €

VIII. & IX. Detaillierte Fallanalyse

Die Berechnung erfolgt in zwei Varianten:

  1. Ohne Anrechnung des Voraus an S:
  • Pflichtteil: 100.000 € (1/4 von 400.000 €)
  • Gesamtanspruch: 300.000 € (davon 200.000 € Pflichtteilsergänzung)
  1. Mit Anrechnung des Voraus an S:
  • Gesamtanspruch: 350.000 € (reduziert auf 300.000 € wegen § 2328 BGB)
  • Effektive Kürzung durch Anrechnung des Voraus

X. Bilanzierung des Gesamtvermögens

Bei einem Gesamtvermögen von 2.200.000 € erhält S letztlich 350.000 € statt möglicher 500.000 €. Diese Behandlung entspricht der einer Ehefrau nach § 2325 III BGB.

XI. & XII. Variation: § 2326 BGB

Alternative Fallgestaltung mit zusätzlichem Vermächtnis:

  • Nachlass: 400.000 €
  • Vorausempfang A: 1.600.000 €
  • Vorausempfang S: 200.000 €
  • Vermächtnis für S: 250.000 €

Die Anwendung des § 2326 BGB führt zu einer weiteren Benachteiligung von S:

  • Vermächtnis: 250.000 €
  • Pflichtteil entfällt wegen § 2307 BGB
  • Pflichtteilsergänzungsanspruch entfällt wegen § 2326 BGB

XIII. Lösungsansatz: Einschränkung des § 2326 BGB

Vorschlag zur Rechtfortbildung:

  • § 2326 BGB sollte bei Schenkungen an pflichtteilsberechtigte Erben keine Anwendung finden
  • Alternative: Abschmelzung im Rahmen des § 2327 BGB oder
  • Beschränkung des § 2326 BGB auf Zuwendungen an Dritte

XIV. & XV. Praxisfall zur Anrechnung nach §§ 2315, 2316 BGB

Fallbeispiel aus der Rechtsprechung (OLG München, 15 U 4547/07):

  • 1978: Schenkung (3,6 Mio. DM) mit Anrechnungsvereinbarung
  • 1984/1999: Erbverträge
  • 1997: Weitere Zahlung (600.000 DM) mit Anrechnungsvereinbarung

Verfahrensgang:

  • Klage auf Feststellung der Nicht-Anrechnung
  • Widerklage auf Feststellung der Anrechnung der späteren Zahlung

XVI. & XVII. Rechtliche Würdigung

Entscheidungsgründe:

  • Keine analoge Anwendung des § 2315 BGB
  • Formunwirksamkeit der Anrechnungsvereinbarung
  • Neuere Rechtsprechung zu § 140 BGB beachtenswert

XVIII. & XIX. Praxisbeispiel zur Ausgleichung

Konstellation:

  • Nachlass: 120.000 €
  • Drei Söhne, Witwe als Alleinerbin
  • Zwei Söhne erhielten je 20.000 € Zuwendung

Rechtliche Lösung:

  • Berechnungsgrundlage: 60.000 € (nach Abzug des Witwenteils)
  • Hinzurechnung der Vorausempfänge: 40.000 €
  • Resultat: Erhöhter Pflichtteilsanspruch von 16.666,50 €

Wichtig: Ein zusätzlicher Pflichtteilsergänzungsanspruch scheidet aus (BGH, DNotZ 1963, 113).

XX. Schlusswort

Als Schlusswort wählte Herr Dr. Purps ein Nietzsche Zitat:

"Tradition bewahrt das Bewährte, Innovation schafft das Bessere"

Und stellte die Frage in die Korona was uns daran hindert, gerechte Ansprüche durchzusetzen?

Ein äußerst gelungener Vortrag im Rahmen, der 17. ErbR Tagung - sehr anspruchsvoll und mit praxisrelevanten, kniffligen Fallbeispielen.

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